Friedrichsthal – Criewen 22,8 km
In der Nacht gab es doch noch ein heftiges Gewitter begleitet von starkem Regen. Nun hat sich die Luft angenehm abgekühlt. Von meiner Pension muss ich zunächst wieder ein Stück zurück. Da schon wieder graue Wolken aufziehen, bereite ich bei der nahe gelegenen Bushaltestelle meinen Poncho vor. Dann biege ich wenig später vor einem Hinweisschild auf den nun beginnenden Nationalpark Unteres Odertal in einen Wald ab.
Der Nationalpark wurde 1995 gegründet. Das Untere Odertal erstreckt sich über 60 Kilometer mit seinen Flussauen von Hohensaaten im Süden bis nach Stettin im Norden. Zwischen Kanal und Oder liegt die drei bis fünf Kilometer breite Niederung und umfasst eine Fläche von 10.500 ha. Zusammen mit dem polnischen Landschaftsschutzpark umfasst es sogar eine Fläche von über 40.000 ha. Diese Niederungen sind die einzige intakte Polderlandschaften Deutschlands.
Der Nationalpark ist auch ein bedeutendes Brut-, Rast- und Überwinterungsgebiet für zahlreiche Vogelarten. Dazu gehören verschiedene Gänse- und Entenarten, Silber- und Graureiher, Schwarz- und Weißstörche, Kraniche, verschiedene Greifvögel mit u.a. auch dem Seeadler und verschiedene Singvögel. Insgesamt wurden hier 284 verschiedene Vogelarten beobachtet. Von denen 161 Arten hier im Gebiet auch brüten. Auch viele verschiedene Säugetiere, Amphibien, Reptilien und Fische sind hier ebenfalls beheimatet. Neben der vielfältigen Fauna ist hier auch eine große Artenvielfalt der Flora zu beobachten.
Die Flussauen sind im Einflussbereich der Oder mit seinen Hochwassern ständiger Veränderungen unterworfen. Der Nationalpark ist durchzogen mit vielen kleinen Verästelungen und Seitenarmen der Oder und auch bedeckt mit Tümpeln.
Auf dem asphaltierten Radweg geht es durch einen Mischwald, stellenweise auch nur aus Birken bestehender Laubwald. Es ist schon eine Plage, kaum bin ich im Wald, haben mich die Mücken wieder entdeckt. Stehen bleiben darf ich nicht, denn dann beginnt sofort eine Invasion dieser Plagegeister. Nach einiger Zeit erreiche ich die Teerofenbrücke über einen Oderkanal mit dem Namen Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße. Die Oder verläuft hier ein Stück weiter Richtung Polen. Neben ihr werde ich erst später wieder unterwegs sein.
Auf der Brücke steht ein älterer Mann und spricht mich, als ich ihn erreiche, sofort an. Ich bin für ihn der erste Wanderer, den er hier sieht und er fährt täglich von Schwedt hier her. Hier kommen nur viele Radfahrer des Oder-Neiße-Radweges vorbei, erklärt er mir. Als Wanderer bin ich ein Exot unter Autofahrer, Radfahrer, Spaziergänger und Gassigeher. Er begleitet mich, sein Rad schiebend, noch ein Stück des Weges und will mir die Wasserbüffel und Wildpferde zeigen. Nach der Brücke öffnet sich langsam zwischen Bäumen die außergewöhnliche Auenlandschaft und der Kanal, auf der anderen Seite des Deichs, wird durch Büsche und Bäume immer mehr verdeckt. Dann erreichen wir die Stelle mit den Wasserbüffeln und Wildpferden. Diese sind einige Hundert Meter weit vom Kanal entfernt. Doch ihr schwarzes Fell und das beige Fell der Pferde hebt sich deutlich vom Hintergrund ab. Der Mann hat ein Fernrohr dabei und so kann ich die Tiere deutlicher betrachten. Danach verabschieden wir uns und er radelt davon.
Weiter öffnet sich der Blick in die Flussauen und ich werde mit jedem Schritt begeisterter. Jetzt fehlt mir nur noch eine Bank zum Genießen dieser einzigartigen Landschaft. Und ich habe Glück, wenig später erreich ich eine Bankgruppe und habe eine fast 180-Grad-Sicht auf die Auen. Vor mir breitet sich eine Landschaft mit Tümpel, kleinen Seitenarmen der Oder und einer Vielfalt von Flora vor mir aus. Zudem dringen die verschiedensten Geräusche der Vögel und Frösche an mein Ohr. Die Auen wirken auf mich vielschichtig. Vorne die Wiesen in den verschiedensten Grüntönen, vom leuchtenden Hellgrün bis Dunkelgrün, das Ganze durchzogen mit weißen und gelben Blüten und braunen Pflanzen. Dann die nächste Ebene mit Sumpfpflanzen wie Schilf und Rohrkolben. In der dann folgenden Ebene das Wasser mit Algen und Schwimmfarn. Hier dann ein munteres Treiben verschiedener Entenarten und zwei Silberreiher und vermutlich vieler weiterer Vögel, die sich aber meinem Blick entziehen. In der nächsten Ebene folgen niedrige grüne Büsche, die sich mir wie Ballen im oder am Wasser präsentieren. Wieder dahinter Sumpfpflanzen, gefolgt von einer weiteren Schicht Büschen und Bäumen und zum Abschluss das undurchdringliche Dunkelgrün des bewaldeten Berges am Horizont. Da mir die Worte fehlen, um diese unglaublichen Eindrücke auch nur ausreichend bildhaft zu festzuhalten, fotografiere ich, was das Zeug hält. Wohl wissend, dass auch die Bilder nicht diese Vielschichtigkeit und Farbenpracht darstellen können. Ich verweile auf der Bank fast eine Stunde. Zum Beobachten der Fauna fehlt mir nur noch ein Fernrohr.
Zwischendurch radeln viele Radwanderer an mir vorbei. Keiner hält an und nimmt diese Landschaft richtig wahr. Ich nehme nur ein paar Wortfetzen wahr, wie: „Wie schnell sind wir?“, eine andere Stimme: „Etwa 25 km/h“ und bei einer anderen Gruppe: „Wie viel Kilometer schaffen wir heute?“ Ich schaue diesen Radlern ungläubig nach. Neben der Ostsee-Landschaft mit Stränden, Steilküsten und Wäldern ist dies hier das Schönste, was ich bisher auf meiner nun schon über vier Monate dauernden Wanderung wahrnehme. Und ich konnte schon viele schöne Landschaften durchwandern.
Auch nachdem ich widerwillig meine Wanderung fortsetze, bleibe ich noch oft stehen. Dann nehme ich auf der Kanalseite immer mehr einen großen Industriekomplex wahr. Unangenehme Geräusche, wie Fahr- und Signalgeräusche stören mich bei dem immer noch freien Blick auf die Auen. Dann habe ich freie Sicht auf diesen hässlichen Industriekomplex und schließlich beenden auch Hallen auf der Auenseite diese traumhafte Landschaft. Hier wechsel ich über eine Brücke auf die andere Seite des Kanals. Nach dem Industriebereich erreiche ich schließlich Schwedt. Durchquere ein Neubaugebiet, direkt am Kanal liegend und muss einmal, versperrt durch Privatgrundstücke den Kanal weiträumig verlassen. Als ich schließlich wieder den Kanal erreiche, stehe ich vor einem riesigen Seerosenfeld. Nur eine schmale Rinne auf der anderen Uferseite ist frei von Seerosen. Jetzt laufe ich auf einer Uferpromenade am Kanal entlang. Bei einem Eiswagen genehmige ich mir ein großes Eis. Genau richtig bei der nun wieder vorherrschenden Hitze.
Weiter geht es erneut durch eine Neubausiedlung von Schwedt und dann erreiche ich eine hölzerne Fußgängerbrücke. Nachdem ich sie überquert habe, laufe ich zunächst hinter dem Deich und bin irgendwann wieder auf dem Deich. Die sich mir nun öffnende Auenlandschaft ist schön, doch auch nicht ansatzweise so schön, wie die zuvor Erlebte. Vor mir ein schnurgerader Deich und ein paar Motorboote, die gemächlich dahin tuckern, bieten mir für kurze Zeit Abwechslung. Ich beobachte die erzeugten Wellen wie bei einem Waschbrett oder bei einem großen Boot die keilförmig verlaufenden Wellen. Bei einer Brücke im Schatten eines Baumes mache ich eine Pause und trinke den letzten Rest Wasser.
Wieder eine Gerade mit etwa 4 Kilometern nagt nun, nicht enden wollen, an mir. Dann endlich die ersehnte Brücke über den Kanal und nach Criewen zu meiner heutigen Bleibe. Die ist nach der Brücke recht schnell erreicht. Doch zuvor kann ich nicht der Versuchung widerstehen und kehre noch schnell bei einer Eisdiele ein.