36. Etappe: 06. Mai 2013

Ahaus – Gronau  20,0 km

Meine heutige Etappe beginnt mit Sonne pur und strahlend blauem Himmel. Von der Pension am Rande des Stadtzentrums durchlaufe ich ein Neubaugebiet und überquere bei einer Brücke die K45. Dann bin ich bereits im Wald. Inzwischen habe ich mich entschlossen, meine heutige Route zu ändern und steuere sofort die erste Bank im Wald an. Auf der topografischen Karte von Garmin erzeuge ich eine neue Route und übertrage diese auf mein Navi. Dann geht es weiter. Wald wechselt sich ab mit Acker- und Getreideflächen.

Etwa 400 Meter entfernt vor mir entdecke ich etwas stattlich Weißes. Da es zunächst unbeweglich erscheint, lässt mein Interesse daran nach. Doch plötzlich beim Näherkommen bewegt es sich und ich erkenne mit seinem langen gebogenen Hals und dem leuchtend weißen Gefieder einen stattlichen Silberreiher am Bachlauf stehen. Leider noch zu weit zum Fotografieren. Dann macht mein Weg hinter einem Bauernhof einen Linksbogen und kurze Zeit später sehe ich den Reiher wieder. Es ist zwar immer noch weit, doch jetzt kann ich ihn fotografieren. Er scheint mich auch entdeckt zu haben und fliegt hundert Meter weiter. Kaum komme ich ihm wieder näher, fühlt er sich wohl zu sehr gestört und fliegt majestätisch davon.

Wieder durchschreite ich große Anbauflächen und die Windkrafträder sind im Hintergrund wieder ein vertrautes Bild. Auf einem Feld sehe ich ziemlich akkurat in Reihen alle zehn Zentimeter kleine zweiblättrige Pflanzen, etwa 5 bis 7 Zentimeter hoch. Was es für Pflanzen sind, weiß ich nicht.

Mein Weg wird Zusehens verwachsener, die Äste der Büsche und Bäume ragen in den Weg und der Asphalt ist teilweise mit Erde, Ästen und Moos bedeckt. Hier fährt und geht kaum noch jemand durch. Ich überquere eine Bahntrasse und dann sehe ich vor mir einen großen Bauernhof. Am Rande des Weges mache ich im Gras eine kleine Pause und genieße die warmen Sonnenstrahlen. Inzwischen laufe ich auch nur noch mit meinem kurzärmligen Merinowolleunterhemd, dass auch als T-Shirt nutzbar ist.

Dann geht es weiter und ich nähere mich dem Bauernhof. Mt Schrecken erkenne ich ein großes Tor und das versperrt mir den Durchgang. Auf meinem Navi erkenne ich den großen Umweg, den ich laufen muss, wenn ich jetzt zurückgehe. Ich erreiche das Tor und rechts ist ein Spalt offen, durch den ich mich mit Rucksack durchquetschen kann. Mit Näherkommen zum Tor ertönt heftiges Hundegebell von mehreren Hunden. Ich erkenne rechts einen Zwinger, doch weiteres Gebell kommt von einer anderen Stelle. Ich mag Hunde sehr, aber Hunde, die ihr Revier verteidigen, können sehr unangenehm werden. Davor habe ich einigen Respekt. Nun gilt es eine Entscheidung zu treffen, über den Hof weiterlaufen oder zurück. Ich entscheide mich für den Hof und hole zur Sicherheit mein Pfefferspray aus der Hüftgurttasche und halte mit der linken Hand meine NW-Stöcke mit der Spitze nach vorne. Mit Hundeattacken habe ich auf meinen beiden Pilgerreisen durch Frankreich und Spanien einige Erfahrung gesammelt. Im Hof sehe ich sofort links einen Weg, der ist aber auch mit einem Tor versperrt. Weiter also in Richtung des Hundegebells und nach der Rechtsbiegung sehe ich mit einiger Erleichterung den zweiten Zwinger. Dann kann ich den Hof wieder verlassen. Links von mir fährt der Bauer mit einem Traktor auf einem Feld. Mein Weg stößt nun auf einen quer verlaufenden Weg, der nur links oder rechts zulässt. Der Weg ist nicht auf meinem Navi eingezeichnet. Irgendwie stimmt alles nicht und ich bin verunsichert, wie ich laufen soll. In meiner Unschlüssigkeit kommt der Bauer auf mich zu. Er macht keinen verärgerten Eindruck auf mich und ich entschuldige mich für das Durchlaufen des Hofes, erkläre ihm die Situation und mein Projekt. Er scheint interessiert und so gebe ich ihm meine Visitenkarte mit meiner Weblogadresse.

Der Weg links, nicht in meinem Navi angezeigt, ist nach Bestätigung des Bauern richtig und schon nach kurzer Zeit bin ich wieder in Richtung meiner Route.

Nach etwa zwei Kilometer erreiche ich eine liebevoll erstellte Schutzhütte mit Holz und Ziegelsteinen. Auf der Fensterbank stehen mehrere Mineralwasserflaschen und der Tisch im Inneren ist mit einer Tischdecke gedeckt und darauf steht ein Blumengedeck im Korb. An den Wänden ein Foto der Erbauer und ein Foto wohl von den Frauen, die sich nun um diese Hütte kümmern. Ich habe auf meinen langen Pilgerreisen schon viele Hütten gesehen, diese ist mit Abstand die Schönste. Ich verstehe das Mineralwasser als Gabe und trinke eine Flache Wasser. Meine Visitenkarte mit einem Danke lasse ich zurück. Das an der Wand mit einem gemalten Bild aufgehängte Gedicht gefällt mir.

Auf dem Weg

Menschen sind wir, immer auf dem Weg.

Manchmal schleppen wir uns auf
steinigen Strecken mühsam dahin.

Manchmal blüht alles um uns
und in uns, und alles wird leicht.

Weggefährten können hinderlich
oder hilfreich sein;
Orientierung ermöglichen
oder Verwirrung stiften.

Die Klarheit des Ziels
bestimmt meinen Schritt.

Wer oder was erwartet mich?
Das wirft Licht oder Schatten
auf meinen Weg.

Menschen sind wir – immer unterwegs.
Einer kennt den Weg.
Er ist der Weg und mein Weggeleit zum Ziel.

Verfasser unbekannt.

Heute begegnen mir keine Menschen und Autos, nur gelegentlich ein Bauer mit seinem Traktor. Auf dem Asphalt trage ich meistens meine NW-Stöcke in der linken Hand und halte rechts mein Navi. Zu oft muss ich den weiteren Weg kontrollieren. Nach den anfänglichen Umwegen ist die öftere Kontrolle in Fleisch und Blut übergegangen. Auch jetzt sehe ich rechtzeitig die Abbiegung auf einer langen geraden Allee. Ohne Kontrolle wäre ich vorbei gegangen.

Nun ist Schluss mit den kleinen und abseits gelegenen Wegen. Ich erreiche die Bundesstraße und laufe nun auf dem teilweise durch Büsche und Bäume geschützten Radweg in Richtung Ebe und Gronau. Ein Stück dieses Weges ist beiderseits gesäumt durch gelben Löwenzahn.

An einer Bushaltestelle mache ich eine Pause. Kaum sitze ich, kommen drei Jugendliche mit Fahrrädern hinzu. Einer der Drei schaut mehrfach auf meine Kamera und mein Navi. Ich bleibe ruhig sitzen und warte ab. Was anderes kann ich in dieser Situation nicht tun. Dann fahren die Jugendlichen weiter und ich begebe mich wieder auf meinen Weg. In Ebe mache ich in einer Bäckerei eine Pause, danach geht es die letzten 5 Kilometer nach Gronau.

35. Etappe: 05. Mai 2013

Gescher – Ahaus  18,9 km

Beim Bezahlen komme ich mit dem Wirt kurz ins Gespräch. Er bestätigt mir, dass es im Frühling im Münsterland am schönsten ist. Im Spätsommer dominiert inzwischen der Maisanbau und die Landschaft wird eintöniger. Ich verlasse den Gasthof ohne Frühstück und hole dieses in der nahe gelegenen Bäckerei nach.

Vom Stadtkern bin ich schnell in einem Neubaugebiet. Einige Familien sitzen auf der Terrasse und frühstücken. Das Wetter dazu ist ideal. Wieder blauer Himmel und fast keine Wolken. Auch diesen Bereich lasse ich bald hinter mir und bin wieder auf Wirtschaftswegen, mal unbefestigt, meistens jedoch asphaltiert, unterwegs. Meine Füße haben sich wohl schon ein bisschen daran gewöhnt.

Bäume und Büsche säumen meinen Weg und manchmal durchlaufe ich auch wieder Alleen. Die Felder und Weiden im satten Grün werden immer wieder durch kleine Laubwälder oder Reihen von Bäumen unterbrochen. Kleinen Wiesen sind durchzogen mit Löwenzahn. Viele Bäume tragen nun schon deutlich Blattwerk, auch wenn dieses noch nicht sehr groß ist. Nur bei den alten und großen Bäumen sehe ich meistens noch Knospen. Für mich, der täglich stundenlang durch die Natur wandert, ist der tägliche Wandel faszinierend. Alles sprießt und wächst inzwischen wie mit Siebenmeilenstiefel. Die vielen Grüntöne dominieren jetzt die Landschaft. Ab und zu werden sie unterbrochen vom Weiß, Gelb und Rosa blühender Bäume und Büsche. Ich lasse mich von dieser Landschaft gerne ablenken und mache öfters am Wegesrand oder auf einer Bank eine Pause.

Am Horizont erkenne ich einen Kirchturm und um ihn herum ein paar Häuser und Bauernhöfe. Ich bin erstaunt, dass bei so wenig Gebäude schon eine Kirche ist. Mein Weg verläuft durch Felder direkt auf dieses Dorf zu. Plötzlich fliegt erschreckt vor mir eine Wachtel auf. Ich war so nah bei ihr und doch habe ich sie mit ihrem braun gemusterten Federkleid nicht wahrgenommen.

Immer näherkomme ich der Kirche und nun wird deutlich, es ist kein winziges Dorf, da stehen deutlich mehr Höfe und Wohnhäuser. Mein Weg führt mich mitten durch diesen Ort. Es ist die kleine Stadt Büren. In unmittelbarer Nähe zur Kirche kehre ich in einem kleinen Biergarten ein. Schon nach kurzer Zeit füllt sich der Biergarten. Alle Personen sind feierlich angezogen und ich höre heraus, dass eine Kommunion gefeiert wird. Der kleine Biergarten entpuppt sich als sehr großes Restaurant, wie ich dann später beim Verlassen feststellen musste.

Nach Verlassen des Restaurants bin ich schnell in einem Wald und mein Weg wird zunehmend schmäler. Leichte Zweifel, ob ich noch lange weiterlaufen kann, keimen in mir hoch. Ich riskiere es und laufe weiter. Der Weg ist nun nur noch ein kaum erkennbarer Trampelpfad, aber noch begehbar. Dann versperrt mir ein dicker umgefallener Baum meinen Weg. Nach diesem Hindernis gabelt mein Trampelpfad schon bald wieder in einen normalen Waldweg und dieser mündet auf eine Kreisstraße. Nach etwa 400 Meter verlasse ich nach rechts die Straße und erreiche nach wenigen Metern eine Schutzhütte. Eine Pause ist nun fällig. Kaum jedoch sitze ich, kommt eine ältere Frau mit ihrem Fahrrad zur Hütte gefahren. Sie fragt mich, ob sie sich zu mir setzten kann. Natürlich kann sie das. Sie holt aus ihrer Gepäcktasche eine kleine Flasche Bier und setzt sich zu mir. Wir kommen schnell ins Gespräch, für mich eine willkommene Abwechslung.

Sie fragt mich nach ihrem Alter. Da sie einen sportlichen, vitale und geistig  sehr regen Eindruck auf mich macht, schätze ich sie auf Mitte siebzig. Nein, sie ist schon 86 Jahre alt! Täglich fährt sie noch 35 Kilometer und heute hat sie bereits 41 Kilometer hinter sich. Zusätzlich schwimmt sie noch zweimal die Woche.

Dann erzählt sie aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Hier wären viele Bombenangriffe gewesen. Ich frage nach, denn warum sollten in dieser Gegend viele Bombenangriffe sein. Sie erklärt mir, dass es hier Abschussrampen mit der V2 gab. Persönlich habe sie als junges Mädchen den Tod von Onkel Fiebke miterleben müssen. Sie war in der Nähe bei ihrem Onkel und sah die Bombe kommen, rief ihrem Onkel zu, er möge sich hinwerfen. Er stand seelenruhig da und rauchte seine Zigarre. Sie warf sich in eine kleine morastige Grube. Dann die unvorstellbare Detonation. Als sie wieder aufstand, war vom Onkel nur noch der Rumpf zu sehen. Sie habe lange gebraucht darüber hinwegzukommen. Auch zwei Brüder habe sie im Krieg verloren. Jetzt gehe es ihr aber gut. Bis vor Kurzem radelte auch ihr 91jähriger Mann mit, jetzt sieht er nicht mehr gut und kann nicht mehr mit.

Diese Frau macht einen unglaublichen Eindruck auf mich, ich hätte mich gerne noch länger mit ihr unterhalten, doch ich muss weiter.

Ich kehre auf die Kreisstraße zurück und laufe hier weiter. Dieser Weg ist deutlich kürzer als meine geplante Route und hat einen separaten Radweg. Nach etwa fünf Kilometer erreiche ich die Kreisstadt Ahaus. Wieder beginnt die Suche nach einer Bleibe, doch diesmal bin ich schnell fündig. Es ist eine Pension am andern Ende des Zentrums. Ich übernachte bei einem holländischen Ehepaar im geräumigen Dachzimmer.