184. Etappe: 31. Oktober 2013

Görisried – Kempten (Allgäu)
Distanz: 21,9 km; Aufstiege: 334 m; Abstiege: 429 m

Als ich die Privatunterkunft verlasse, sind es gerade mal 3 Grad Außentemperatur. Es ist bewölkt und trocken. Zunächst laufe ich auf einem Wirtschaftsweg entlang an kleinen Wäldern und Weiden mit immer noch vielen grasenden Kühen. Das Geläut begleitet mich auf meinem Weg. Irgendwann bin ich in einem größeren Waldgebiet mit mehreren Steigungen bis auf über 900 Meter.

Im Wald stoße ich auf ein Kunstobjekt, eine aus Ästen hergestellte Halbkugel. Unglaublich perfekt rund. Viele Äste sind mit natürlichen Holzdübeln verbunden. Es folgen weitere Kunstobjekte, unter anderem auf eine Jakobsmuschel. Bei einem riesigen Findling mache ich auf einer Bank ohne Rückenlehne bei inzwischen scheinender Sonne ein Nickerchen. Ich lehne mich dabei zurück in den aufgeschnallten Rucksack und habe fast eine Liegestellung. Ich kann so recht angenehm Pausieren und durchaus auch schlafen. Nur wenn ich wieder aufstehen will, habe ich ein Problem. Dann fühle ich mich wie ein Käfer, der auf auf dem Rücken liegt und nicht mehr hochkommt. Wie gut kann ich jetzt zappelnde Käfer in Rückenlage verstehen J. Ich brauche ein paar Versuche und viel Anstrengung, um wieder in die Sitzstellung zu gelangen.

Am Ende des Waldes betrete ich eine riesige Weidefläche. Der Weg führt mittendurch. Hier hat sich die Sonne wieder verkrochen und nun ist es empfindlich kalt geworden. Ich hole meine Mütze und meine Handschuhe aus dem Rucksack. Auf einer Anhöhe endet diese Riesenweidefläche und ich erreiche einen kleinen Weiler. Auf der anderen Seite ist die Ferne fast vollständig in Nebel gehüllt. Von der Anhöhe laufe ich wieder runter durch einen kleinen Ort, unter einer Autobahn durch und erreiche schließlich Kempten. Meine Pilgerunterkunft liegt am anderen Ende und ich muss durch die ganze Stadt und zum Schluss auch noch eine längere Steigung überwinden.

Meine Unterkunft ist ein Jugend- und Familienhotel und bietet für Pilger Mehrbettzimmer zu deutlich günstigere Konditionen an. Ich bin in einem 4-Bett-Zimmer alleine untergebracht. Pilger sind Mangelware geworden.  

182. Etappe: 29. Oktober 2013

Lechbruck – Marktoberdorf
Distanz: 26,8 km; Aufstiege: 644 m; Abstiege: 579 m

Nachts werde ich durch starken Regen, der auf das Dachflächenfenster niederprasselt, wach und das schließlich nochmals gegen 4 Uhr. Der Tag beginnt deprimierend.

Als ich den Frühstücksraum betrete, fallen mir sofort wieder die vielen Kissen auf. Wie schon in meinem Zimmer, dort gibt es vier Kissen in meinem Bett, liegen hier überall Kissen. Meine Zimmerwirtin hat ganz offensichtlich ein Faible dafür. Als zusätzliche Sitzunterlage gibt es noch Lammfelle. Der Raum ist hell und geschmackvoll eingerichtet. Alles richtig gemütlich.

Meine Zimmervermieterin ist fast 80 Jahre alt, wie sie mir erzählt. Mich als Preuße scheint sie wie einen Ausländer einzustufen, denn nach fast jedem Satz kommt (ins Hochdeutsche übersetzt :-): „Haben sie mich verstanden?“ Beim Befüllen des Brotkorbes mit Brötchen sagt sie beiläufig: „Diese zwei Brötchen sind für sie:“ Ich antworte: „Nur zwei Brötchen? Ein Pilger hat großen Hunger.“ „Ich habe noch selbst gebackenen Zopf und Roggenbrot“, antwortet sie. Sofort ist sie hellwach und holt einen weiteren Brotkorb aus dem Schrank. Hier kommen meine beiden Brötchen rein. Die restlichen Brötchen bleiben in der Küche. Man weiß ja nicht, ob der Pilger doch mehr als die zwei Brötchen isst :-). Sicher ist sicher. Dann schneidet sie drei Scheiben von ihrem selbst gebackenen Zopf ab und betont: „Ihr Preußen sagt doch lecker? Wir sagen (ein Versuch es bayerisch klingen zu lassen :-)): „Is guuart“.“ Danach fragt sie mich, ob ich auch Spiegeleier mit Speck mag. Ich bejahe es und schon steht sie am Herd und bringt mir wenig später einen großen Teller mit Eier und Speck. Mit Blick auf den Brotkorb kommt von ihr mit vorwurfsvoller Stimme: „Sie haben ja noch nicht meinen Zopf probiert!“

Während des Essens fragt sie mich, ob ich nicht das Gästehaus kaufen möchte. Dann beklagt sie sich über einen Pilger. Dieser hatte es abgelehnt bei ihr ein Zimmer zu nehmen, da die WCs auf dem Flur sind. Hier beruhige ich sie und erkläre ihr, das war kein wirklicher Pilger, höchstenfalls „Edel- oder Luxuspilger. Als Pilger braucht man keine Sterneunterkunft. Herbergen in Spanien oder Frankreich haben die Duschen und WCs auf dem Flur. Diese besonderen Ansprüche gab es bereits bei einem „Promipilger“ 🙂 mit Buchveröffentlichung.

Meine Etappe beginne ich mit Poncho und leichtem Regen. Zur Vorsicht bleibe ich bis Bernbeuren auf der wenig befahrenen Kreisstraße. In Bernbeuren besuche ich die Kirche und finde dort in einem kleinen Kasten auch einen Pilgerstempel. Meine Vermieterin hatte so etwas nicht. Nach Bernbeuren führt der Camino durch die Feuersteinschlucht. Ich riskiere es und komme in eine problemlos zu laufende kleine Schlucht mit einem munter dahin plätschernden Bach. Zwar muss ich auch auf die nassen Blätter und Wurzeln achten, doch hier gibt es keine kritischen Stellen.

Nach Verlassen der Schlucht erreiche ich eine Kreisstraße und verlasse diese nicht mehr bis auf den Auerberg. Die Sicht in die weitläufige Landschaft und zu den Alpen ist hier sehr gut. Ich halte mich jedoch nicht lange auf und steige wieder ab. Jetzt geht es teilweise durch dichten Nadelwald, doch meistens am Waldrand entlang, immer wieder mit Blick auf die Alpen. Leider sind die Gipfel komplett in Wolken gehüllt. Bei einer Bank mit herrlichem Blick mache ich eine Pause. Hier gibt es eine sehr detaillierte Panoramansicht mit allen Namen der Bayerischen- und Allgäuer Alpen.

Danach durchlaufe ich Stötten und Burk. Schließlich nähere ich mich Bertoldshofen. Hier sehe ich einen jungen Bauern beim Werkeln an einem Elektrozaun. Neugierig frage ich ihn nach der Dauer einer Batterieladung für einen Elektrozaun. Sicher etwas unpräzise meine Frage und so dauert es eine Weile, bis er antwortet: „Kommt drauf an.“ Ich hake nach: “Hier bei diesem Zaun?“ Er wieder: „Kommt drauf an. Hängt von der Batterie ab.“ Ich: „Bei dieser Batterie.“ Er wieder mit Verzögerung: „Kommt drauf an.“ Nun gehe ich in die Offensive: „Eine Woche oder einen Monat?“ Er sichtlich genervt: „Von Frühjahr bis Herbst.“ Nicht ohne seinen Nachsatz zu vergessen: „Kommt aber drauf an.“ Mir reicht es, dem jungen Mann muss ich jedes Wort aus der Nase ziehen und so verabschiede ich mich von ihm. An seinem Gesichtsausdruck erkenne ich, er ist froh den lästigen Frager loszuwerden. Ab Bertoldshofen folge ich meinem Smartphone-Navi und verlasse das Dorf auf einem Wirtschaftsweg Richtung Rieder. Bei der Abzweigung zur Bundesstraße rufe ich meinen Zimmervermieter an und frage nach Möglichkeiten zum Abendessen in der Kreisstadt. Er antwortet mir, dass er mich in den Ort fahren kann, ich aber auch bei ihm etwas essen könnte. Ich soll erst einmal ankommen, dann bereden wir das. Jetzt sind es noch etwa drei Kilometer.

Der Weg führt geradewegs auf die Bundesstraße zu und ich sehe regen Verkehr und schnelles Fahren. Hoffentlich gibt es dort einen Radweg. Als ich näherkomme, erkenne ich das entsprechende Hinweisschild und bin beruhigt. Etwa einen Kilometer laufe ich an der B472 entlang und biege dann auf einen schmalen Weg Richtung Marktoberdorf ab. Dieser mündet in eine Allee mit alten knorrigen und wuchtigen Linden. Kurz bevor ich das Ende der Allee erreiche, überhole ich einen Mann. Er fragt mich, ob ich ein Jakobspilger bin und ich bejahe es. Sofort folgt die Frage, ob ich zu Elfis Pilgerquartier gehe. Auch das bejahe ich und er bestätigt mir, hier auf dem richtigen Weg zu sein. Ergänzt dann noch: „Dort gibt es einen Pilgerstempel, sie brauchen nicht zur Kirche zu laufen.“ Ich bedanke mich für diese Information und eile weiter. Inzwischen ist es deutlich dunkler geworden. Am Parkplatz laufe ich ein kurzes Stück in falsche Richtung, merke aber schnell den Fehler. Schließlich erreiche ich das Haus mit dem Pilgerquartier.

Erhard empfängt mich und führt mich zur Herberge. Ich trete ein und bin schlagartig in der Welt spanischen Herbergen angekommen. Gleich am Eingang stehen Pilgerstöcke und auch an der Wand hängen drei Stöcke. Die Wände uneben verputzt und weiß gestrichen, klassisch wie in Spanien. Ich bin begeistert und beeindruckt. Sofort kommen Erinnerungen an meine Caminos in Spanien bei mir hoch. Zum Empfang erhalte ich erst einmal Saft und Wasser. Erhard überträgt Daten meines Pilgerausweises in seine Pilgerliste und wir unterhalten uns eine Weile. Dann führt er mich hoch zu den Zimmern. In meinem Zimmer stehen zwei Betten, doch später sehe ich, man kann noch jeweils ein Bett herausziehen. Es gibt einen Aufenthaltsraum mit Bibliothek, eine Selbstversorgerküche und ein großes Bad mit WC. Was es so angenehm macht, sind die vielen Kleinigkeiten. Hier haben Personen eingerichtet, die selbst schon viel unterwegs waren und die Bedürfnisse genau kennen. Alles ist geschmackvoll und gemütlich hergerichtet.

Der nächste Höhepunkt kommt, als ich zur vereinbarten Zeit nach unten gehe. Der Tisch ist bereits gedeckt und eine Flasche Rioja steht ebenfalls auf dem Tisch. Als Aperitif gibt es einen Portwein. Es folgen Rioja und ein viergängiges Pilgermenü. Der Abend klingt mit Gesprächen über die Caminos und von meiner Wanderschaft aus.  

181. Etappe: 28. Oktober 2013

Rottenbuch – Lechbruck
Distanz: 21,1 km; Aufstiege: 341 m; Abstiege: 418 m

Als ich mein Privatquartier im Klosterhof verlasse, ist der Himmel bewölkt und dicke Regenwolken verkünden ungemütliches Wetter. Ein Stück laufe ich auf der Straße, bevor ich dies in einem Dorf verlasse und auf einem Wirtschaftsweg unterwegs bin. Nun geht es ordentlich aufwärts und ich komme ins Schwitzen. Es ist recht warm, anders als vorhergesagt. Meine Zimmerwirtin meinte, es sind vielleicht noch die Reste des Föns vorhanden. Schnell verstaue ich unterwegs meine Jacke im Rucksack.

Von der Ferne sehe ich eine Kirche hoch auf dem Berg und darunter ein Dorf. Mit Blick auf die Alpen und dem Dorf mache ich meine erste größere Pause. Hier wechsel ich auch meine Oberbekleidung und ziehe wieder das T-Shirt an. Kaum zu glauben, aber die Sonne scheint sich nochmals gegen den nahenden Spätherbst aufzubäumen. Mich treffen herrlich warme Strahlen. Der Himmel ist fast bayerisch weißblau. Als ich Jürgen in Ostfriesland anrufe, kann er es kaum glauben. Bei ihnen tobt sich gerade ein Sturm aus.

Beschwingt von diesem traumhaften Herbsttag laufe ich dem Ort Wildsteig im romantischen Pfaffenwinkel entgegen. Durchschreite den Ort und klettere einen kurzen Anstieg zur Kirche hinauf. Was ich zunächst als Wieskirch vermutet hatte, entpuppt sich als Ortskirche, leider verschlossen. Die Wieskirche ist noch 4,4 Kilometer entfernt. Zwei Frauen begegnen mir suchend. Auf meine Frage, ob sie den Weg zur Wieskirche suchen, verneinen sie. Sie suchen verzweifelt nach einem WC. Ja diese Probleme sind mir bestens bekannt J.

Unterwegs erreiche ich den kleinen Weiler Holz und dort eine kleine Kapelle. Davor im Boden eingelassen die Jakobsmuschel mit der Entfernungsangabe nach Santiago. Wie zur Begrüßung des Jakobspilgers läutet sie.

Nach Holz erreiche ich eine weitläufige Ebene umgeben mit Wald und zwei junge Frauen kommen mir entgegen. Sie sind für vier Tage unterwegs. Leider habe ich den Namen ihres Pilgerweges vergessen. Beide wollen einmal eine mehrtägige Wanderschaft erfahren. Wir unterhalten uns auch über den Jakobsweg in Spanien. Dann verabschieden wir uns und gehen unserer Wege.

Es dauert noch, bis ich endlich in der Ferne die Wieskirche, inzwischen ein UNESCO-Weltkulturerbe, sehe. Vor mir biegt ein Paar auf meinen Weg ein. Mehrfach drehen sie sich nach mir um. Vielleicht auch ein Pilgerpaar. Schließlich bleiben sie stehen und ich erreiche sie. Die Frau erkenne ich zunächst nicht. Es ist eine der beiden Frauen, die mir in Wildsteig begegnet ist. Das Paar wartete auch nicht auf mich, sondern auf weitere Personen einer Wandergruppe. Sie sind auf einer selbst zusammengestellten Wandertour.

Als ich die Wieskirch erreiche, bin ich beeindruckt von ihrer Größe und so alleine mitten in der Landschaft. Ich hatte die Kirche nicht so groß in Erinnerung. Der Innenraum ist von beeindruckender Schönheit.

Auf dem weiteren Weg durchschreite ich ein beginnendes Hochmoorgebiet. Der Weg führt über Holzstegen. Schließlich erreiche ich Steingaden und nutze im Ort auch die „Romantische Straße“. Bei einem Dönerimbiss mache ich eine Essenspause und sehe, dass die Orte Garmisch Partenkirchen, Oberammergau und Füssen in greifbarer Nähe liegen.

Ab Steingaden verlasse ich meine Route und bleibe an der Straße bis nach Lechbruck. Nach dem Ortsschild überschreite ich den Lech und bin nun im Ostallgäu angekommen. Das Gästehaus ist schon von der Brücke aus sichtbar. Im Briefkasten, wie vereinbart, liegt jedoch nicht der Schlüssel. Gerade als ich telefonieren will, kommt mir eine ältere Frau aus dem Garten entgegen. Sie ist die Zimmerwirtin. Mein Zimmer liegt im zweiten Stock und ist ein gemütlicher Raum. Das Duschbad im im Zimmer ist hinter einem Vorhang versteckt.