45. Etappe: 19. Mai 2013

Leer – Emden  29,4 km

Nach dem Aufstehen plane ich meine Route nochmals um und so komme ich recht spät von meiner Unterkunft weg. Mein Zimmer liegt abseits der Pension in einem kleinen Einfamilienhaus. Daher gibt es hier auch kein Frühstück. Meine Hoffnung, in der Bäckerei in der Nähe etwas zu bekommen, zerschlägt sich sehr schnell. Alles ist dunkel, es lohnt sich wohl nicht, am Pfingstsonntag hier zu öffnen. Nun bleibt mir die Hoffnung auf meinem Weg durch die Stadt eine geöffnete Bäckerei oder auch eine Tankstelle zu finden. Ich habe zu gut meine Route auf Nebenstraßen durch Leer geplant, auf diesen Wegen gibt keine Einkehrmöglichkeit. Auch die Straßen und Wege sind nicht für eine Tankstelle attraktiv genug.

Es ist ein trübes kaltes Wetter, und nachdem ich die Stadt verlassen habe, sehe ich nur noch Industrieanlagen, Windkrafträder in der Ferne und laufe an Weiden vorbei. Die schnurgeraden Wirtschaftswege haben wieder nur Asphalt oder Beton als Belag und machen mich mürbe. Weiterhin nirgends eine Einkehrmöglichkeit. Mein Weg führt mich über die Autobahn und nach einiger Zeit endlich wieder an die Ems. Hier versperrt mir der Deich, wie schon gestern, die Sicht auf den Fluss.

Inzwischen hat es sich ein bisschen aufgeklart und die Sonne kommt zwischen den Wolken ab und zu durch. Bei einem Hinweisschild und einer Aussichtsplattform auf ein Biotop sehe ich eine kleine freie Sandfläche. Ich breite meine Zeltunterlage aus und freue mich auf meine Mittagspause. Der Platz ist etwa 10 Meter von der Straße entfernt und vom Tümpel hinter der Plattform höre ich das Konzert der Frösche. Kaum habe ich meine Schuhe ausgezogen und liege auf meiner Unterlage, kommt die erste Radlergruppe an. Im Gänsemarsch geht es an mir vorbei zur Plattform. Natürlich schauen alle zu dem seltsamen Zeitgenossen im Sand. So hatte ich mir eigentlich nicht meine Pause vorgestellt. Nach dieser Gruppe komme ich nur für kurze Zeit zur Ruhe. Schon rollt die nächste Gruppe an und das Schauspiel Gänsemarsch und irritiertes Schauen wiederholt sich.

Seit dem Münsterland komme ich mir wie eine aussterbende Spezies vor. Kommen mir Auto- oder Motorradfahrer entgegen, egal ob ich unterwegs bin oder am Wegesrand raste, alle Augen sind auf mich gerichtet. Manchmal habe ich Angst einen Unfall zu verursachen. Die Fahrzeuge fahren viel zu dicht hintereinander und die Fahrer schauen nur zu mir. Bisher ist mir noch kein Wanderer begegnet. Unterwegs sind neben den Auto- und Motorradfahrern nur noch Radfahrer und Hundebesitzer.

Ich habe wohl den einzigen sonnigen Moment abgepasst, den schon bald nach meinem Aufbruch verschwindet die Sonne wieder und es ist wie zuvor nur noch kühl. Weiter und weiter geht es, langsam merkte ich das fehlende Essen. Ich laufe nur noch lustlos und inzwischen deutlich langsamer. Erst gegen 15 Uhr sehe ich bei Rorichum ein Hinweisschild mit einer 150-Meter-Angabe zu einem Gasthof und Biergarten. Es keimt Hoffnung auf und dieses Schild macht mich wieder munter. Ich biege ab und tatsächlich ist dort Betrieb. Im Biergarten mache ich meine Rast und habe schnell das Interesse vom Gastwirt, der draußen persönlich bedient, geweckt. Neben einem Warmgetränk und einem Essen unterhalten wir uns über meine Wanderschaft. Eine Bedienung hatte mich am Vormittag bereits gesehen und zusammen mit weiteren Gästen entsteht eine muntere Unterhaltung.

Gestärkt geht es weiter und mein Schritt ist wieder raumgreifender. Dabei verpasse ich die vom Wirt empfohlene Abzweigung zum Ems-Seitenkanal. Erst nach Petkum biege ich zum Kanal ab. Endlich keine Autos und Motorräder mehr, nur noch Angler und die störe höchstens ich mit meinem Klack, klack der Stöcke.

Unmittelbar vor Emden verlasse ich den Ems-Seitenkanal und überquere einen Verbindungskanal und kurze Zeit später den Borßumer Kanal. Emden empfängt mich mit kleinen Ziegelstein-Reihenhäusern und Doppelhaushälften. Zum Eingang führen bei allen Häusern drei Stufen, lediglich die umfassenden Mäuerchen unterscheiden sich ab und zu. Diese Häuser haben sicherlich schon etliche Jahre auf dem Buckel. Die Treppenstufen sind ideal zum Pausieren, und da mein Rucksack drückt, frage ich einen gerade angekommenen Motorradfahrer, ob ich mich auf seine Treppe setzten darf. Er erwidert: „Ja natürlich, vor allem Personen mit solchen Schuhen.“ Kaum habe ich mich gesetzt, sind wir schon im Gespräch über Wanderausrüstung. Er holt mir zur Erfrischung gleich ein Malzbier und erzählt mir anschließend, dass er öfters kurze Wanderungen in Dänemark unternimmt. Für längere Wanderungen hat er aus beruflichen Gründen leider keine Zeit. Auf seinem iPad zeigt er mir eine neue Software zur Routenplanung. Wir haben so viel Gesprächsstoff und ich könnte sicher noch Stunden im Gespräch mit ihm verbringen, doch ich muss weiter. Meine Zimmervermieterin wartet sicherlich schon auf mich.

Bis zum Ziel sind es nur noch etwa 1 ½ Kilometer und ich kann bis dahin auf dieser Straße bleiben. Um 19:50 Uhr erreiche ich meine heutige Pension. Sie liegt direkt am alten Binnenhafen von Emden. Kaum bin ich im Gebäude, komme ich mit der Zimmervermieterin ins Gespräch. Sie hat eine bewegte und interessante Vergangenheit.

Sie ist 78 Jahre alt und wurde in Schanghai geboren. Ihr Mann verstarb vor drei Jahren und war Schiffsbauingenieur. Zuletzt hat er einen neuartigen Schiffstyp entwickelt. Die Töchter mit ihren Ehemännern haben die Patente bis heute aufrechterhalten und stehen zurzeit mit Interessenten in Kontakt.

Ihr Mann kommt aus einer alten Emdener Schiffbaufamilie. Sie haben einige Jahre in den USA gelebt und sie hat nach einem abgebrochenen Elektrotechnikstudium in Deutschland dann in den USA Museumspädagogik studiert. Später hat ihr Mann im Iran eine kleine Werft ausgebaut und danach ohne persischen Partner eine eigene Firma gegründet und betrieben. Dazu musste viel Geld auf einer persischen Bank als Rücklage hinterlegt werden. Bei Beginn der Revolution 1978 wurden vom Schah die Gelder auf den persischen Banken gesperrt. Sie und ihr Mann kamen danach nicht mehr an ihr Geld. Sie verloren alles und flüchteten nach Deutschland. Hier angekommen waren sie, wie sie sich ausdrückte: „Arm wie eine Kirchenmaus“. Er baute wieder eine Firma auf und kaufte das Haus, in der die heutige Pension untergebracht ist. Zunächst ging es gut, dann jedoch konnten sie in einer schlechten Phase nicht die Tilgung und die Zinsen kurzfristig zahlen. Die Bank wollte schon das Haus übernehmen, als ein iranischer und ein deutscher Freund der Familie halfen.

Alle Töchter leben weit von Emden entfernt. Eine Tochter ist eine erfolgreiche Malerin in den USA. Eine andere lebt in Berlin. Sie möchte gerne zu dieser Tochter und der kleinen Enkelin ziehen und das Haus verkaufen. Trotz der Rückschläge hatte sie ein gutes und glückliches Leben, wie sie betonte. Genau so einen Eindruck macht sie auch auf mich.

Es ist spät geworden, die Etappe war anstrengend und ich habe nun keine Lust mehr zu scheiben. Das werde ich morgen nachholen. 

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