Eine vorübergehende Unterbrechung.

Heute begann ich meinem Körper gehorchend mit einem Pausentag. Seit gestern Nachmittag erfolgten viele Anrufe in die Regionen meiner nächsten Etappenziele. Überall viel Schnee und Kälte, damit zurzeit keine Hoffnung, dass der Schnee wegschmilzt. Meine Wege führen mich ja möglichst über Feld-, Wald- und Wirtschaftswege zu meinen Zielen. Hier besteht noch keine Hoffnung auf schneefreie Wege. Wieder mit schwerem Rucksack stundenlang durch den Schnee stapfen, bringt mich nur wieder an mein Leistungslimit. Ein bisschen Schmerz, auch einige Anstrengungen und in Strömen fließender Schweiß, ja das gehört durchaus für mich dazu. Doch tagelang, täglich 6 – 8 Stunden, nur den Körper schinden und Gefahr laufen, endgültig meinen Traum aufgeben zu müssen, nein das muss nicht sein! Ein bisschen Spaß möchte ich auch dabei haben. Abends nach Ankunft bei meinen nächsten Etappen möchte ich noch in der Lage sein, gemütlich mit Freunden und Bekannten, die ich zum Teil seit über 30 Jahre nicht mehr gesehen habe, zu plaudern. Das geht aber nur, wenn ich nicht so fertig bin wie gestern.

Daher heute Vormittag meine Entscheidung zur vorübergehenden Unterbrechung.

Hier ein paar Vorhersagen, die auch meine Entscheidung beeinflussten:

Bei Wetter.com kann man heute für Idstein (meine nächste Etappe) lesen:
Das Wetter in Idstein – In Idstein kann sich morgens die Sonne nicht durchsetzen und es bleibt bedeckt bei Werten von -6 bis zu -5°C. Darüber hinaus sind am Nachmittag und am Abend Teile des Himmels mit Wolken bedeckt, die Sonne ist aber zwischendurch sichtbar bei Temperaturen von -5 bis -1°C. Nachts gibt es nur selten Lücken in der Wolkendecke und die Temperatur fällt auf -7°C. Der Wind weht schwach aus nördlicher Richtung mit Geschwindigkeiten bis zu 13 km/h.

Bis Freitag, den 15.03.2013 bleiben die Temperaturen im Keller, Höchsttemperatur Freitagabend 0 °C, dann aber Nachts wieder -4 °C.

Bei Wetter.com kann man heute für Bad Marienberg (meine 4. Etappe, jetzt die 3. Etappe) lesen:
Das Wetter in Bad Marienberg – In Bad Marienberg kommt es morgens zu einem Mix aus Sonne und Wolken bei Werten von -10 bis zu -8°C. Mittags bilden sich leichte Wolken und die Höchstwerte liegen bei -5°C. Abends ist es in Bad Marienberg vielfach wolkig bei Temperaturen von -6 bis -4°C. In der Nacht ziehen Wolkenfelder durch bei Tiefsttemperaturen von -7°C. Der Wind weht leicht aus nördlicher Richtung mit Geschwindigkeiten bis zu 11.1 km/h.

Bis Freitag, den 15.03.2013 bleiben die Temperaturen im Keller, Höchsttemperatur Freitagabend -3 °C, dann aber Nachts wieder -5 °C.

Wie geht es weiter? Erstmal Wunden 😆 lecken und schauen was mein rechtes Knie und mein Oberschenkel macht, ich hoffe nur Muskelkater. Ansonsten geht es schon wieder besser. Der Tatendrang ist zwar etwas gebremst, aber immer noch da.

Ich werde jetzt täglich die Vorhersagen verfolgen, auch regelmäßig Telefonate mit Freunden und Bekannten in meinen Zielregionen führen. Veränderung bzw. Hinweis, auch wann es weitergeht, setze ich frühzeitig auf meinen Blog. Diese Woche bleibe ich zu Hause. Ob es dann in der nächsten Woche weitergeht, entscheide ich mit zwei bis drei Tagen Vorlauf.

Die Etappe bis Frankfurt habe ich abgehakt, daher starte ich gemäß meinem Etappenplan die nächste Etappe in Frankfurt-Höchst.

1. Etappe: 12. März 2013

Darmstadt-Eberstadt – Frankfurt am Main

Um 4:30 Uhr reist mich der Wecker aus dem viel zu kurzen Schlaf. Wäre nicht die Triebfeder Wanderung, ich hätte diesen verfluchten Wecker ausgeschaltet und weitergeschlafen. Wie in Trance stehe ich auf und gehe zur Haustür. Der Winter meint es gut mit mir. Es liegt nur ein Hauch von Puderzucker im Hof, also gute Voraussetzungen für den ersten Wandertag. Doch der fehlende Schlaf verhinderte einen schnellen Aufbruch. Alles geht langsam vonstatten und erst um 6:00 Uhr bin ich startklar.

Die Nacht war extrem kurz. Bis ich alles fertig hatte, war es 02:30 Uhr geworden. Nicht meine Reise, sondern eine Reihe anderer Dinge musste ich noch erledigen.

Nur wenige Autos und Radfahrer sind unterwegs. Ich schreite zügig voran und erreiche nach etwas mehr als einer halben Stunde die Rheinstraße. Sie führt zu Darmstadts zentralen und wichtigsten Platz, dem Luisenplatz mit dem langen Lui, ein Denkmal für Ludwig I., den ersten Großherzog von Hessen und bei Rhein. Ein Wahrzeichen der Stadt Darmstadt. Schon von weitem lacht mich ein Plakat mit Kaffee an und weckt in mir das Verlangen darauf. Die Festbeleuchtung zeigt mir nur die Reinigungskräfte bei der Arbeit. Auch das nächste Café, nur einige Meter weiter, ist noch geschlossen. Erst bei der Back-Factory komme ich zu meinem Muntermacher. Doch als ich wieder aufbrechen will, beginnt es heftig zu schneien. Kaum hat meine Wanderung begonnen, schon muss ich den ungeliebten Poncho anziehen.

Es dauert nicht lange und ich spüre immer deutlicher den eisigen Wind, der mir entgegenschlägt. Meine Verbrechermaske – die schwarze Sturmhaube -, ist gut verstaut im Rucksack und dadurch nicht erreichbar. Denn Poncho und Rucksack draußen im Schneegestöber ausziehen, ist keine wirklich gute Idee. Also die Kälte aushalten und weiter.

Inzwischen setzt der Berufsverkehr ein und die Fahrzeuge kommen nur schleppend voran. Im Stadtteil Arheilgen waren dann unsere Geschwindigkeiten angeglichen und daran änderte sich auch bis zum nächsten Stadtteil Wixhausen nichts mehr. Ich stapfe inzwischen durch einige Zentimeter Schnee auf dem Standstreifen neben den Autos her. Teilweise treffen mich mitleidige Blicke, aber auch verwunderte Blicke und bei Einigen habe ich das Gefühl hier ist ein bisschen Schadenfreude dabei. „Was läuft denn da für ein Irrer“, denken vermutlich einige von Ihnen. Meistens jedoch achte ich nicht auf die neben mir haltenden oder fahrenden Autos, ich bin zu sehr mit mir beschäftigt und spürte immer mehr, dass dieses Laufen im Schnee mit einem 16 kg Rucksack Kraft kostet. Jeder Schritt ist begleitet mit leichtem Rutschen. Je näher ich zum Industriegebiet von Egelsbach komme, löst sich der Stau auf bzw. beginnt in Richtung Darmstadt. Glücklicherweise habe ich zuvor die Straßenseite an einer Ampelanlage gewechselt, denn einige Autofahrer haben bereits die Witterungsverhältnisse vergessen und rasen wieder. Ich möchte wenigstens dem Tod ins Auge sehen und nicht von hinten das Ende erleben. Kurz vor der Abzweigung zur Autobahnauffahrt meint es ein Autofahrer besonders gut mit mir und fährt bewusst – vielleicht auch nur gedankenlos – mitten durch den aufgetürmten Matsch und saut mich dabei total ein.

Nach einiger Zeit erreiche ich das Ortsende von Egelsbach und lese mit Schrecken, das es bis nach Langen noch 15 km sind. Doch ein zweiter Blick zeigt mir nur 1.5 km, ich habe doch glatt den Punkt dazwischen übersehen. Mein Verlangen, mich einmal zu setzen und den Rucksack nicht mehr zu spüren, wird immer größer. Vielleicht 50 Meter vor mir taucht eine Bushaltestelle auf, doch als ich diese erreiche, gibt es keine Bank. Ich räume ein Mäuerchen neben der Haltestelle vom Schnee frei und lehnte mich mit dem Rücken an das Mäuerchen, der Rucksack liegt oben auf. Endlich kann ich zumindest meinen Rücken entlasten.

Weiter geht es. Wieder setzte verstärkt das Schneetreiben ein und jetzt wäre die Sturmhaube sehr nützlich. Leider nicht erreichbar. Nur noch wenige Autos begegnen mir.

Alles ist in Weiß getaucht und lässt keinen weiten mehr Blick zu. Im nächsten Ort Sprendlingen brauche ich eine Pause, will endlich sitzen. Das Ortsschild schon von weitem vor Augen, kommt mir ein kleiner Schneeräumer entgegen, ich drücke mit erhobenem Daumen meine Freude über einen nun freigeräumten Weg aus. Leider hält die Freude nur kurz bis nach dem Ortsschild an, es geht wieder durch den Schnee. Im Ortskern wechseln sich dann freigeräumte Stellen mit ungeräumten Schneeflächen. Endlich taucht eine Bäckerei mit Café vor mir auf. Ich frage den Bäcker, ob ich mit meinem Poncho und Rucksack mich beim Ihm setzen und einen Kaffee trinken darf. Er nickt und so kann ich mich endlich einmal hinsetzen, einen Kaffee trinken und ein Kuchenstückchen essen. Mit einem Rucksack auf dem Rücken kann man nicht wirklich sitzen, vielmehr berührt der Po gerade mal ein paar Zentimeter die Sitzfläche, aber trotzdem immer noch besser als stehen.

Diese Pause tat gut und ich schöpfe wieder Energie für die nächsten 4,5 km bis Neu Isenburg. Leider hält diese Energie nur wenige Meter. Immer deutlicher spürte ich meinen Körper und der Weg raus aus Sprendlingen nach Neu Isenburg verläuft nur noch durch hohem Schnee. Um 12:00 Uhr erreichte ich dann endlich den Ortseingang, brauche aber noch 35 Minuten bis zum Ortsausgang.

Wieder eine kurze Rast auf einer von mir zuvor freigeräumten Bank an der  Straßenbahnhaltestelle, dann geht es weiter. Auf dem nun folgenden Teilstück ist der Randstreifen zu schmal und zu gefährlich zum Laufen. Also auf die andere Straßenseite und rein in den Wald. Ich kenne diesen Weg durch den Wald von meiner letztjährigen Testwanderung. Nur letztes Jahr war schönes Wetter und nun liegt eine hohe Schneeschicht. Nur ein Radfahrer hat zuvor seine Spur gezogen. Ich muss durch den hohen Schnee. „Es sind ja glücklicherweise nur noch 3,3 km bis Sachsenhausen“, denke ich und starte leicht beflügelt die letzte Etappe vor Frankfurt.

Nur war wohl meine Wahrnehmung schon deutlich getrübt, wie ich später bei der Auswertung der GPS-Daten feststellen musste. Meine Geschwindigkeit war auf 4 km/h und noch später zum Teil auf 3 km/h reduziert.

Ich versinke Knöcheltief im Schnee und das Laufen wird immer beschwerlicher. Mit fortschreitender Dauer erhöht jeder Schritt meine Qualen. Jetzt spüre ich mein rechtes Knie, Schmerzen im Sehnenansatz, die Oberschenkelmuskulatur brennt und ich werde zunehmend langsamer. Das verfluchte Sachsenhausen will und will nicht kommen. Wann immer eine Abzweigung wieder zur Straße führt, ich schleiche inzwischen dorthin, um dann doch wieder nur festzustellen, der Randstreifen ist immer noch zu schmal und der Schnee dort genau so hoch wie im Wald. Die wenigen Autofahrer, die an mir vorbeifahren, haben die Witterungsverhältnisse scheinbar wieder verdrängt und rasen an mir vorbei. Wieder geht es reumütig in den Wald zurück.

Nur Bäume und weiße Flächen und kein Ende ist abzusehen. Immer deutlicher merke ich, ich habe mein Leistungslimit für heute erreicht.

Der wenige Schlaf, außer dem Kuchenstück nichts gegessen – meine Wegzehrung liegt gut verpackt im Rucksack und da ist,  ohne Aufwand nicht ranzukommen -, der schwere und noch ungewohnte Rucksack drückt, mein Nacken schmerzt und vor allem meine Beine wollen nicht mehr so wie ich will. Dass ich mir inzwischen zwei Blasen eingehandelt habe, spüre ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die spätere Auswertung meiner Polaruhr ergab einen Tages-Verbrauch von 6753 Kcal.

Endlich das Ortsschild von Frankfurt. Hier wollte ich eigentlich die Straße überqueren und in Richtung Main und Hauptbahnhof laufen. Doch mit meinen Qualen war bereits der Entschluss gereift, alle Treffen abzusagen und mich auf dem kürzesten Weg, mit Bus und U-Bahn, direkt zu meiner heutigen Unterkunft nach Kiyo, Noriko’s Trauzeugin, zu begeben. Hier will sich Noriko mit mir treffen. Nur noch Rucksack runter, Duschen und erholen. Daher mobilisiere ich noch einmal die Reste meiner Energie. „Bald ist es ja geschafft“, denke ich mir. Aber auch der Fußgängerweg ist noch bis zur Sachsenhäuser Warte nicht geräumt und so verpuffte diese Rest-Energie schnell wieder. An der Warte sehe ich endlich in Höhe des  Holiday Inn’s, die heiß ersehnte Haltestelle. Etliche Personen warteten bereits auf einen Bus und umlagerten stehend die Sitzbank. Geben mir aber nach meiner Bitte den Weg frei und so kann ich mich völlig erschöpft setzen. Ich werde immer wieder angeschaut und kann mir keinen Reim darauf machen. Erst etwas später merke ich, dass mein Bart komplett vereist ist. Es dauerte noch fast eine ¾ Stunde, bis der erste Bus kommt. Die nachfolgende U-Bahn-Fahrt verläuft dann auch nicht reibungslos, alle Passagiere der U5-Linie in Richtung Preungesheim müssen plötzlich im oberirdischen Teil der Strecke die U-Bahn verlassen und auf die nächste Bahn umsteigen. Warum konnte man uns dies nicht schon in der U-Bahn-Station mitteilen, jetzt stehen wir in der Kälte und im Schnee. Kurz vor 15:00 Uhr habe ich endlich mein heutiges Ziel erreicht.

Nach einer erholsamen Verschnaufpause mit zwei guten Kaffees beginne ich dann mit meinen Absagen. Morgen werde ich einen Erholungstag einlegen.

Heute habe ich trotz mieser Witterungsverhältnisse 31,6 km zurückgelegt. Meine Gesamtdauer (bis zur Bushaltestelle) betrug 7:37 h und davon war ich insgesamt 6 Stunden in Bewegung, zunächst zügig, dann langsamer und zum Schluss kriechend. Zwei größere Pausen gab es in Darmstadt – zum Wach werden – und in Sprendlingen.

Zum Abendessen hat Kiyo Sushi und Kimchi (ein fermentiertes scharfes Gemüse aus der koreanischen Küche) zubereitet, das ich in vollen Zügen geniesse. Noriko und Kiyo haben sich viel zu erzählen, mir aber fallen die Augen zu und ich verschwinde in das Gästezimmer. Vielen Dank liebe Kiyo für die tolle Bewirtung und Betreuung.