85. Etappe: 12. Juli 2013

Boltenhagen – Beckerwitz  13,3 km

Es war eine unruhige Nacht. Mehrfach wurde ich durch lärmende Jugendliche aus dem Schlaf gerissen und bereits um 4:30 Uhr schreit im Zelt neben mir ein Baby. Den Weckruf meines Smartphones ignoriere ich und döse bis kurz vor 8 Uhr dahin.

Ein Frühstück brauche ich heute nicht zu kaufen, die gestern Abend um 22 Uhr kostenlos erhaltenen Brötchen und der zuvor gekaufte Schinken, sowie ein Joghurt reichen mir. Dazu Wasser und Apfelschorle.

Der Fernwanderweg E9 führt weiterhin an der Küste entlang und ist mit über 30 Kilometer bis Wismar zu lang als Etappe. Ich möchte nicht nur in Wismar übernachten, sondern auch etwas von Wismar sehen. Ich werde also nicht komplett an der Küste entlang laufen, sondern einen auf meiner topografischen Karte ausgewiesenen Radweg nutzen.

Als ich fertig bin und das Zelt abgebaut und den Rucksack gepackt habe, ist es bereits nach 10 Uhr. Ich verlasse den riesigen, total durchorganisierten und doch unpersönlichen Campingplatz. Man kann bis 21 Uhr kommen, noch bis 22 Uhr in einem kleinen Supermarkt einkaufen. Es gibt ein Restaurant und kann dort morgens frühstücken, ein Frühstücksbuffet bei entsprechender Bezahlung (!) ist vorhanden. Beim Supermarkt aus verschiedenen Frühstückskombinationen wählen. Die Varianten sind, wie in Japan in einer Vitrine als Attrappe, ansehbar. Es gibt für die Masse Mensch auf diesem Platz eigens einen großen Abfallhof. Die sanitären Anlagen sind modern und sauber. Das Personal ist nett und hilfsbereit und doch habe ich mich nicht wirklich wohlgefühlt. Es war mir alles zu groß und es sind zu viel Menschen hier. Mir fehlt ein Aufenthaltsbereich ohne all diesen Business, und die freie Möglichkeit an einer Steckdose meine Geräte und leeren Akkus aufzuladen. Zu spät gestern Abend erinnerte ich mich, dass ich eine Steckdose benötigte. Musste dann aber feststellen, dass so etwas hier nicht frei zugänglich existiert. Strom gibt es nur gegen Geld.

Nach der Ausfahrt des Campingplatzes unmittelbar vor der Straße steht ein Händler mit Blumen und Obst.

Er spricht mich an, mit wieder den Fragen nach dem Wohin und dem Woher. Er ist beeindruckt von meinen Antworten. Dann erzählt er, dass er 76 Jahre alt ist und hier schon seit 20 Jahren steht. Das Geschäft läuft oft prächtig, manchmal verdient er bis zu 800 €. Es macht auch Spaß den vielen jungen Mädchen im Bikini nachzuschauen, die über die Straße zu Strand laufen. Als Wegzehrung packt er mir in eine Plastiktüte mehrere Handvoll Kirschen, einige Aprikosen und etliche Erdbeeren ein und freut sich über mein überraschtes Gesicht.

Nach Boltenhagen führt mich mein heutiger Weg zunächst auf einem schmalen asphaltierten Pfad bergauf. Während des Aufstiegs kommt mir ein Mann entgegen und auch er spricht mich an.

Er ist spontan nach Boltenhagen gefahren und hat sich diese kurze Auszeit gegen den Widerstand seiner Frau genommen. Er braucht diese Zeit für sich und aus seinen Äußerungen entnehme ich, dass er auch gerne mal etwas länger aus dem Alltag ausbrechen möchte. Ich erzähle ihm von meiner Reise und von meiner Motivation dazu und rate ihm, nicht nur davon zu träumen, sondern es auch zu tun. Dann zitiert er einen Spruch von Wilhelm Busch: „Viel zu spät begreifen viele die versäumten Lebensziele …“ (komplett nachzulesen bei Lebensweisheiten auf diesem Blog)

Der asphaltierte Weg wechselt in einen unbefestigten Weg mit vielen kleinen Auf- und Abstiegen. Es ist warm geworden und wieder ein traumhaftes Wetter. Der Schweiß fließt und doch freue ich mich über das schöne Wetter. Lieber Hitze und Schweiß, als den ganzen Tag durch Kälte oder Regen laufen und nirgends einkehren können. Mit der Wärme gibt es auch geöffnete Gasthöfe und Cafés.

Immer wieder begegne ich Radfahrern, doch wie bisher bewegt sich kaum einer zu Fuß. Unterwegs komme ich an einem parkenden Auto mit Darmstädter Nummernschild vorbei. Im Überschwank, etwas von Darmstadt zu sehen, schreibe ich eine kurze Nachricht auf die Rückseite meiner Visitenkarte. Diese stecke ich dann hinter ein Wischerblatt. Ob sich die Person wohl meldet?

Leider hat der schöne Weg auch sein Ende und weiter geht es auf einem Radweg an der Straße entlang. Bei einem Restaurant in Wohlenberg kehre ich für ein kühles Getränk ein. Hier komme ich mit einem Herrn ins Gespräch, der mehrere Ultramarathons gelaufen ist. Jetzt aber dies nach einem Herzinfarkt und mehreren Bypässen nicht mehr kann und nun wandert. Seine Empfehlung zu mir, regelmäßig das Herz auch mit Belastungstests überprüfen zu lassen.

Nach Wohlenberg versuche ich wieder, mich dem Strand zu nähern, doch dies scheitert an einem fehlenden befestigten Weg. Ich folge daher weiterhin der Straße und bin auch so in unmittelbarer Nähe zum Strand. Leider endet alsbald der Radweg und wieder direkt geht es auf der Straße weiter. Die Fahrzeuge fahren hier allesamt langsam, doch pochen viele mit dem Kennzeichen NWM und HWI(!) auf ihre Fahrbahn und fahren dicht an mir vorbei. Ich gewinne den Eindruck, die meisten denken: „Was will dieser Typ hier auf meiner Fahrbahn, der gehört hier nicht hin!“ Sicher gibt es auch viele vernüftigen Fahrer(innen) in dieser Gegend, denen bin ich leider heute nicht begegnet. Deutlich wird dieser Unterschied, wenn mir Fahrzeuge zum Beispiel aus Hamburg oder Hannover entgegen kommen. Diese halten deutlich mehr Abstand zu mir. Ein Fahrer, wenn auch im Schritttempo sich mir nähernd, drängt mich komplett von der Fahrbahn fort. Wieder einmal ist für Momente meine Gelassenheit dahin, doch ich habe mich noch im Griff, nicht mit der Hand gegen die Beifahrerseite zu schlagen. Kurz nach diesem Zwischenfall gibt es glücklicherweise wieder einen Radweg.

Immer wieder führen kleine Pfade von der Straße zum Strand. Für eine Pause im Sand folge ich so einem Pfad und stehe dann am gut besuchten Strand. Um mich herum besetzte Strandkörbe und sonnende Menschen. Ich bin hier ein totaler Exot und werde entsprechend beäugt. Ist mir aber egal, im Sand liegen, Schuhe und Strümpfe aus, die sich brutzelnden Menschen betrachten macht mir Spaß.

Auf der Strandseite der Straße taucht dann ein großes Hinweisschild auf einen Campingplatz mit dem Namen „Liebeslaube“ auf. Ich fotografiere dieses Hinweisschild zusammen mit dem danebenstehenden Verkehrszeichen. Als ob die Kommune etwas gegen diese Liebeslaube hat, steht dieses Verbotsschild „Durchfahrt verboten, Einbahnstraße“ daneben. Natürlich ist dem nicht so, alles nur eine Frage des Blickwinkels beim Fotografieren.

Ich folge dem Weg zu dieser Liebeslaube und durchquere fast den Campingplatz, als ich in der Ferne ein großes verschlossenes Gittertor sehe. Also zurück und zur Rezeption. Dort erhalte ich die Auskunft, dass das Tor nicht komplett verschlossen ist. Wieder zurück und tatsächlich ist das Tor einen Spalt weit offen. Gerade so breit offen, dass nur Personen und Radfahrer hindurch kommen.

Es ist fast 16 Uhr und noch sind es geschätzte 10 Kilometer bis nach Wismar. Stadtbesichtigung und Berichte schreiben, ich bin mehrere Berichte zurück, dazu ist nicht viel Zeit nach meiner Ankunft. Und wie gerufen taucht plötzlich direkt neben meinem Weg eine einsam gelegene kleine Jugendherberge auf. In einem Mehrbettzimmer kann ich übernachten und bin momentan noch alleine darin. Ein Anruf in Wismar und die Änderung der Übernachtung auf Morgen ist gebucht und so bleibe ich in dieser netten Jugendherberge. 

82. Etappe: 07. Juli 2013

Eutin – Pönitz am See  20 km

Bereits kurz nach 4 Uhr werde ich durch das Vogelgezwitscher wach. Zum Schlafen reicht das kleine Tunnelzelt, doch das Schreiben, ist wegen des Platzmangels mühsam. Und so stehe ich auf und gehen zu den überdachten Tischen und der Steckdose gegenüber der Rezeption. Jetzt funktioniert auch die WLAN-Verbindung. Zwei Ältere und den letzten Artikel übertrage ich in meinen Blog. Über das Internet suche ich nach Campingplätzen in der Region und werde am Großen Pönitzer See fündig. Um Zeit zu sparen, werde ich heute wieder einen Arbeitstag an der Straße einlegen. Ich muss mich einfach wieder der Ostsee nähern und rasch zum Großen Pönitzer See kommen. Daher erstelle ich meine heutige Route neu.

Gegen 7 Uhr kann ich einen kleinen Aufenthaltsraum nutzen und um 7:45 Uhr gibt es mein kleines bestelltes Frühstück. Danach ist Packen und Zelt abbauen fällig. Vieles geht jetzt flüssiger von der Hand. Noch etwas feucht packe ich das Zelt ein. Die Sonne scheint inzwischen und es wird langsam wärmer. Wieder ein schöner Tag kündigt sich an.

Zunächst folge ich dem Seeverlauf am Kellersee und schon bald habe ich Plön erreicht. Wieder nicht viel später bin ich bereits am Großen Eutiner See. Es dauert noch einige Zeit und ich verlasse Plön und wechsel auf eine Kreisstraße mit Radweg. Der Straße folgend durchquere ich mehrere kleine Orte und nach Gothendorf hört leider der Radweg auf und ich bin wieder auf der Straße unterwegs. Langsam habe ich mich mit den gedankenlosen Autofahrern arrangiert und nehme vieles gelassener hin. Doch als mir ein Motorradfahrer mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit entgegen kommt und Sekunden später auch schon an mir vorbei ist. Und dies in einem nicht besonders großen Abstand zu mir tut, ist meine Gelassenheit wieder dahin. Die unfreundlichen Worte, die ich ihm nachschreie, nimmt er natürlich nicht wahr. Sie mussten aber aus mir raus.

Schon kurz vor Barkau verfolgt mich der penetrante Geruch von Gülle je Wind mal mehr mal weniger. Trotzdem brauche ich eine Pause und sehe ein schattiges Plätzchen mit einer Bank. Ein Bikerpaar verlässt gerade die Bank und gibt mir den Rat, nicht in der Mitte zu sitzen, die Bretter verbiegen sich schon heftig. So kommen wir noch kurz ins Gespräch.

Mitten auf der Wiese vor meiner baufälligen Bank steht ein Gedenkstein, der an den Freikauf aus der Leibeigenschaft im Jahre 1735 erinnert.

Vier Kilometer nach Barkau erreiche ich Pönitz und muss auf die Bundesstraße B432 wechseln. Von der Ferne sehe ich regen Verkehr auf der Bundesstraße und keinen Radweg. Ungute Erinnerungen an die Straße vor Flensburg werden wieder in mir wach. Bei diesen Gedanken steigt ein mulmiges Gefühl in mir hoch. Als ich jedoch näherkomme, sehe ich etwas seitlich versetzt zur Straße doch einen Radweg. Ich atme auf und kann unbeschwert, ohne auf den Verkehr zu achten, weiterlaufen.

Etwa fünf Meter vor mir liegt etwas Geschwungenes auf dem warmen Asphalt. Meine Aufmerksamkeit hat es eigentlich nicht, ich nehme es nur undeutlich wahr. Doch als ich mich nähere, wird plötzlich aus dem leblosen Geschwungenen etwas Lebhaftes. Eine etwa 70 bis 80 cm lange Schlange windet sich seitlich ins hohe Gras. Ich schrecke auf und kann noch die weißen Stellen am Kopf erkennen.

Meine Suche im Internet ergab, dass es wahrscheinlich eine Ringelnatter war.

Kurz nach Pönitz liegt im Grünstreifen neben dem Radweg ein toter Dachs. Ob er angefahren wurde, kann ich nicht erkennen. Dann erreiche ich Pönitz am See und kann kurze Zeit später in einen unbefestigten Weg unmittelbar am Goßen Pönitzer See eintauchen. Wieder Natur und endlich keinen Verkehr mehr! Noch vor dem Campingplatz kehre ich, einem Bauchgefühl folgend, bei dem am Weg liegenden Landgasthof zum Essen ein.

Auf dem Campingplatz habe ich unmittelbar hinter der Rezeption auf einer großen Wiese freie Auswahl mit meinem Zeltplatz. Das Zelt ist rasch aufgebaut, es kehrt langsam Routine ein. Außer Getränken gibt es auf diesem Campingplatz nichts. Und ich bin froh, vorher etwas gegessen zu haben. Für einige Zeit kann ich noch im Aufenthaltsraum arbeiten und meine Akkus aufladen.

Mit Heinke und Robert vereinbare ich unser morgiges Treffen bei dem Ausflugslokal Hermanshöhe, vor Travemünde gelegen. Meinen Start und die Dauer werde ich morgen früh per SMS mitteilen. Beide kommen von Hamburg angereist. Ich finde es toll, dass sie mich noch einmal treffen wollen und extra aus Hamburg anreisen. Wir hatten uns auf meinem Weg von Büsum nach Tönning am Strand kennengelernt. Meine erste Pause in einem Strandkorb. Es war gleich gegenseitige Sympathie vorhanden. Uns verbindet auch das kurze, aber gewaltige Unwetter nach unserem Treffen. Ich freue mich auf das Wiedersehen.

Auf der Terrasse vor dem Aufenthaltsraum sitzend und den See im Blick, genieße ich den Tagesausklang bei noch angenehmer Temperatur und einem schönen Sonnenuntergang.